Liebe Leser, anlässlich des Jahrestages des Mauerfall erreichen uns Briefe von Menschen, die ihre Erlebnisse aus dieser Zeit schildern.
Mit der DDR konnte ich nur „Grenzerfahrungen“ machen, da ich nie in diesem Land, sondern längere Zeit in Bayern gelebt habe. Von dort aus habe ich mit meiner Familie sporadisch Verwandtenbesuche nach Ostberlin unternommen.
Meine Kinder waren 8, 6 und 3 Jahre alt; war es also verwunderlich, dass für eine über fünfstündige Fahrt für die Kinder Puppen und ein Märchenbuch mitgenommen wurde? Bei der Einreise nach Ostberlin entdeckte der Grenzpolizist das Buch meiner Tochter und raunzte, dass es verboten sei „Druckerzeugnisse“ in die DDR einzuführen. Er ließ es sich aushändigen, blätterte gewissenhaft in dem Buch, und als er in dem Buch keine staatsfeindlichen Seiten entdecken konnte, gab er das Buch mit mahnenden Worten meiner verängstigten Tochter zurück.
Eine weitere Begebenheit am Abend dieses Tages bleibt mir noch nach Jahren im Gedächtnis: Meine achtjährige Tochter Cornelis und der gleichaltrige Sohn meiner Verwandten Volker spielten nach eingetretener Dunkelheit auf dem Parkplatz hinter einem Plattenbau. Meine Tochter erzählte uns auf der Heimfahrt von ihrem Gespräch: Volker: „Siehst du da hinten, wo es so hell ist, da ist der Westen, da möchte ich nicht leben“ Cornelia: „Warum denn nicht?“ Volker: „Dort kann man abends nicht draußen spielen, weil es so viele Verbrecher gibt.“ Cornelia: „Woher weißt du das denn?“ Volker: „das lernt man doch in der Schule!“
Gorbatschow und der Zöllner
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Liebe Leser, anlässlich des Jahrestages des Mauerfall erreichen uns des öfteren Briefe von Menschen, die ihre Erlebnisse aus dieser Zeit schildern.
Fantasiebild von der „Krenz-Kontrolle“ am 12.10.2019 vor dem Freizeitforum Marzahn
Ab Mitte der achtziger Jahre wurden die Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger in den Westen im Zuge der Annäherungspolitik großzügiger gehandhabt. Mit den durch Michael Gorbatschow und seine Unterstützer in der Sowjetunion eingeleiteten Veränderungen der Perestroika gab es bei mir und überall in der DDR Hoffnung auf Veränderungen.
Unser Onkel Wolfgang feierte im Dezember 1987 in Westberlin seinen sechzigsten Geburtstag und lud seine Neffen und deren Ehefrauen zur Feier ein. Also wurden bei der Polizei Reisepässe beantragt. Eine aufregende Zeit des Wartens begann. Schließlich bekamen die Neffen, also mein Bruder und ich, Reisepässe mit dem Visum zum Verlassen der DDR in Richtung der „selbständigen politischen Einheit Berlin (West)“ für fünf Tage. Unsere Ehefrauen und die Kinder mussten wir natürlich als Geiseln in der DDR zurück lassen. Über die vielen Erlebnisse und die Eindrücke in diesen fünf Tagen möchte ich jetzt nicht berichten, nur über die Rückkehr.
Wir hatten mit Tante und Onkel noch am Abend in einem Restaurant gegessen, dann musste ich mich verabschieden. Mein Bruder blieb noch einen Tag, denn er war später eingereist. Mit viel Gepäck fuhr ich in der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße. Der Pass wurde kontrolliert und dann ging es zur Zollkontrolle.
„Machensemal ihrn Goffer uff“ forderte ein Zöllner in meinem Alter in breitem Sächsisch. Mir wurde bange. Unter Wäsche, Büchsen mit Ananas vom Aldi, Kaffee und anderen Mitbringseln hatte ich einen „Spiegel“ (den man damals noch mit Gewinn lesen konnte) versteckt – auf der Titelseite ein großes Bild von Michael Gorbatschow und im Innenteil einen langen Artikel über Glasnost und Perestroika. In Gedanken spielte ich schon den Ärger durch, den ich jetzt zu erwarten hatte. Schicht für Schicht musste ich auspacken. Dann fiel der aufmerksame Blick des Zöllners auf den Spiegel mit dem Foto Gorbatschows auf dem Boden des Koffers. Unsere Blicke begegneten sich lange, bevor er mich aufforderte: „Backnse mal alles wieder ein! Gude Reise!“ Auch in den „bewaffneten Organen“ gab es Menschen, denen an Veränderung lag. Was wohl aus ihm geworden ist?
Als ich ein kleiner Junge war
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Liebe Leser, anlässlich des Jahrestages des Mauerfall erreichen uns des öfteren Briefe von Menschen, die ihre Erlebnisse aus dieser Zeit schildern.
Als ich ein kleiner Junge war….
…. wollten meine Eltern vermeiden, dass ich ähnlich wie mein Vater für seine Weigerung zu Zeiten der Nazidiktatur die braune Uniform der Pimpfe zu tragen, durch eine Ablehnung der Jungen Pioniere für mein gesamtes Leben Nachteile im ersten und einzigen deutschen Arbeiter- und Bauernstaat erleiden müsse. Also musste ich mit 10 oder 11 Jahren der Kampfreserve der SED beitreten.
Stolz mussten wir unser Pioniertuch tragen, zu schulischen Anlässen und auch im gesellschaftlichen Leben, dazu eine weiße Bluse mit dem Emblem der Jungen Pioniere.
Nun trug es sich zu, dass wir Schüler uns an einem warmen Tag aus Gaudi mit Wasser bespritzten. Jeder Brillenträger weiß, wie die Welt durch eine Brille mit bespritzten Gläsern ausschaut.
Als Pionier war ich natürlich pfiffig, anstatt das weiße Hemd beim Putzen meiner Brille zu beschmutzen und mir Mutters Zorn einzuhandeln war mir das blaue Pioniertuch recht.
Aber o Schreck ein eifriger SED Kader beobachtete mich bei dieser Entweihung des Symbols der Jungen Pioniere. Einer ersten Standpauke am Tatort wurde meine ungeheuerliche Missetat bei einem Fahnenappell vor der gesamten Schule bekannt gemacht.
Die Schüler und ich im Besonderen wurden belehrt, dass die Konterrevolution überall lauert und ich durch diesen Frevel die kommunistische Weltrevolution und den Weltfrieden in Gefahr gebracht hatte.
Ja, so war das damals unter den Kommunisten und heute bin ich glücklich und stolz, dass ich damals mit meiner unbedachten Handlung schon als kleiner Junge einen Sargnagel für diese SED Verbrecher eingeschlagen habe.
Westbesuch
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Beispielbild
Liebe Leser, anlässlich des Jahrestages des Mauerfall erreichen uns des öfteren Briefe von Menschen, die ihre Erlebnisse aus dieser Zeit schildern.
Meine Eltern hatten beide viele Geschwister. Meine frühe Kindheit verlief, indem sich die Geschwister mit ihren Familien an den Wochenenden bei den Müttern, also meinen Omas, trafen. Ein Wochenende bei Muttis Mutti, die nächste Woche bei Vatis Mutti. Die Opas lebten nicht mehr.
Kam es vor, daß meine Eltern an einem Wochenende einmal nicht teilnehmen konnten, wurde eine Postkarte mit der Absage geschrieben. Kostete fünf Pfennig Porto und mußte am Donnerstag in dem Briefkasten. Denn die Oma wollte am Samstag Bescheid wissen, wie viel Kuchen gebacken sein müssen.
Dann saßen dort schon mal vier Onkel und vier Tanten, jedes Paar zwei Kinder, dazu meine Eltern mit mir und die Oma. Rund 20 Personen, es fiel nicht weiter auf, ob es ein paar mehr oder weniger wurden. Angereist wurde mit dem Bus, denn Autos hatten wir alle nicht.
Einige der vielen Geschwister meiner Eltern hatte es in den 40er und 50er Jahren in die Westzonen verschlagen. Sie waren jetzt Westonkels- und -Tanten, ein besonderer Status. Sie wohnten weit weg von ihrer pommerschen Heimat und konnten nicht oft in die „deutsche demokratische Republik“ einreisen, vor allem in den 60er Jahren noch nicht. Dennoch oft genug, daß ich mich bestens erinnern kann.
Meine Eltern arbeiteten im Staatsapparat. Es wurde nicht gern gesehen, daß die Staatsbediensteten „Westkontakte“ hatten. Hatten sie aber nun einmal! Ich erinnere mich, daß Onkel Harri bei seiner An- und Abreise jedesmal seinem Bruder, also meinem Vater, einen Besuch abstattete. Er parkte den Mercedes auf der Straße vor unserem Haus und Onkel Harri und seine Frau, die Tante Inge, besuchten uns. Vielleicht nur eine halbe Stunde. Sie waren am frühen Morgen in Wanne-Eickel aufgebrochen, hatten in Grimmen bei Harris Zwillingsbruder und dessen Familie Station gemacht und wollten nun endlich die letzten 20 Kilometer zum Ziel, meiner Oma, fahren. „Samstag sehr wir uns!“
Die Westkontakte meiner Mutter bestanden aus ihrer Schwester. Sie kam mindesten zweimal im Jahr aus Minden mit dem gern so genannten Interzonenzug bis Stralsund und stieg dort in den Überlandbus. In unserem Dorf verließ sie den Bus. Sie besuchte ihre kleine Schwester, meine Mutter, und fuhr mit dem nächsten Bus weiter zu ihrer Mutter, meiner Oma.
Aus Gesprächen meiner Eltern weiß ich, daß die Staatsorgane die Zügel immer straffer anzogen. Während der Westbesuch anfangs einfach so kam, war mein Vater eines Tages, es mag 1970 gewesen sein, gehalten, bevorstehenden Westbesuch bei seinen Vorgesetzten anzumelden. Zuerst reichte noch eine nachträgliche Meldung „war plötzlich da, hatte es vorher nicht gewußt“. Die Steigerung war ein schriftliches Gesuch auf Erlaubnis zum „Kontakt mit Personen aus dem NSW“ (nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet). Irgendwann durften Onkel Harri seinen Mercedes nicht mehr vor unserem Haus parken, sondern bei ein paar Nachbarn weiter, denn dort ist laufend Westbesuch, das fiel nicht auf. Bis auch das meinen Vater nicht mehr schützte, Harri durfte bei seinen Fahrten zur Mutter nicht bei seinem Bruder pausieren.
Das Gleiche wiederholte sich im Haus der Oma. Zuerst durfte mein Vater ungezwungen seine Mutter besuchen, auch wenn Onkel Harri aus dem Westen dort war. Später nur mit Anmeldung bei Vorgesetzten, dann auch das nicht mehr. Anfangs ging es heimlich noch bei Oma. Bis wir irgendwann Onkel Harri an dritten Orten, also konspirativ, trafen. Bis auch damit Schluß war. Mein Vater konnte es sich nicht leisten, denn er hätte seine Berufsausübung und damit die Ernährung unserer Familie gefährdet.
Meiner Mutter ging es ähnlich. Sie wurde Frührentnerin, hätte eigentlich nach der BRD reisen dürfen. Ging aber nicht! Denn das Verbot von „Westkontakten“ für meinen Vater wurde von seinen Vorgesetzten auch auf die Ehepartner ausgeweitet.
Im Jahr 1982 war ich erwachsen genug, um die ganze Perversion der deutschen Teilung, der zerrissenen Familien, ausreichend zu begreifen.
Modus operandi 1982: Meine Tante aus Minden fährt mit dem Interzonenzug bis Stralsund. Um 13 Uhr fährt der Überlandbus ab, wird also gegen 13.25 Uhr an dem Haus meiner Eltern vorbeifahren. Meine Tante wird in dem Bus auf der linken Seite am Fenster sitzen. Meine Mutter, mein Vater und ich werden vor der Haustüre stehen.
So lief es. Der Bus fuhr vorbei, Tante Grete winkte verstohlen, der Bus verschwand hinter der nächsten Kurve. Wir hatten nicht zu winken gewagt. Denn die „Schutz- und Sicherheitsorgane“, das „Schild und Schwert der Partei“, kurz Stasi genannt, hätte einen Spion, einen „informellen Mitarbeiter“ beauftragt haben können, nachzusehen, ob meine Familie dem Bus zuwinkte. Das wäre ein Beweis, gewußt zu haben, daß Tante Grete in dem Bus sitzt, das hätte einer Absprache, auch über Dritte, bedurft, somit wäre ein Westkontakt nachgewiesen. „Wem haben Sie am … um 13.25 Uhr gewunken? Wir wissen genau, daß die Bürgerin der BRD Frau … in dem Bus saß. Sie hat ein Visum für die Deutsche Demokratische Republik …“
So perfide war das damals!
Der Bus war schnell vorbei. Für einen winzigen Augenblick hatten die Schwester sich gesehen. Meine Mutter ging schnell ins Haus. Sie weinte. Auch ich hatte Tränen in den Augen.
Seitenwechsel
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Liebe Leser, anlässlich des Jahrestages des Mauerfall erreichen uns des öfteren Briefe von Menschen, die ihre Erlebnisse aus dieser Zeit schildern.
Der Verfasser des vorliegenden Schulaufsatzes zum Thema Mauerfall war damals 17 Jahre alt und besuchte eine Oberschule in Marzahn. Er hatte die ersten sieben Jahre seines Lebens direkt an der Berliner Mauer gewohnt und war 1980 mit seiner Familie nach Marzahn gezogen.
Seitenwechsel 1990
Ich stehe vor dem schmutzigen Treppenhausfenster eines alten Berliner Mietshauses und schaue auf einen ziemlich unspektakuläre, durch das trübe Wetter besonders trist wirkenden Straßenabschnitt. Ich bin nur zu Besuch hier. Dabei habe ich keine Person besucht, sondern allein dieses schäbige, heruntergekommene Haus, das wegen eines Bombentreffers vor fast einem halben Jahrhundert eine fensterlose, wie abgeschnitten wirkende Seitenwand bekommen hat. Dieses Haus steht direkt an der Berliner Mauer. Hier habe ich meine ersten sieben Kindheitsjahre verbracht. Freilich – die Berliner Mauer gibt es jetzt, im Oktober 1990, nicht mehr. An ihrer Stelle befindet sich seit kurzem noch ein wüster Schuttstreifen, wie ich kürzlich erschüttert feststellte. Dennoch: „mein“ Haus und die Mauer werden für mich immer untrennbar bleiben, denn beides ist Teil meiner Kindheit, die mich tief geprägt hat. Natürlich stammt nur ein Bruchteil meiner Erinnerungen aus den Anfangsjahren – über meine späteren Jahre weiß0 ich ungleich mehr zu berichte. Trotzdem zieht diese Gegend mich aus einem schwer begreifbaren Gefühl derart an, daß ich einige Male sogar an dunklen Winterabenden allein von Marzahn aus dorthin aufbrach. Von dieser bomben- und mauerversehrten Altbaugegend geht für mich Heimatgefühl aus wie von nirgendwo sonst.
Als kleiner Junge stand ich am Wohnzimmerfenster und sah fünf Stockwerke unter mir den etwa 25 Meter breiten Todesstreifen, die Vormauer, die sich im Laufe der Jahre vom Eisengitter zum Wellblechzaun und danach zur Betonmauer wandelte und vor der bei nebligem Wetter das Gewehr schulternde Grenzposten standen. Ich sah den Patroullienfahrzeugweg, den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun, in dem sich hin und wieder ein Kaninchen tödlich verfing, was unter Umständen nächtlichen Hubschrauberalarm auslöste, die schweren Beton-Panzerkreuze in mehreren Reihen, die Laternen und Wachtürme, den merkwürdig sauber geharkten Sandstreifen und schließlich die eigentliche Mauer, von der es hieß, sie sei auf der anderen unsichtbaren Seite bunt bemalt. Dahinter sah und hörte ich Kreuzberger Kinder spielen. Jeden Morgen ging ich etwa 500 Meter zu meinem Kindergarten am Michaelkirchplatz, wo ich von katholischen Nonnen beaufsichtigt wurde.
An manchen Nachmittagen saß ich auf dem Schoß eines abenteuerlichen Onkels ein Stockwerk unter mir, der mir Märchen vorlas und vom Wildschweinjagen erzählte. Dieser Mann war im Krieg Panzerfahrer gewesen und zur damaligen Zeit ein von der Stasi überwachter Freund führender DDR-Oppositioneller. Wegen einer Protestaktion gegen den Mauerbau hatte er die Karriere vom Lehrer zum Kohlenschipper zurückgelegt. Nach meinem Umzug nach Marzahn besuchte ich ihn oft und lieh mir verbotene Bücher von ihm aus. Er starb noch vor dem Mauerfall. Wie sehr hätte ich ihm gewünscht, daß er noch 19 Monate länger gelebt hätte, denn dann hätte er von seinem Wohnzimmerfenster die Mauer kaputtgehen sehen.
Als ich am 11. November 1989 zum ersten Mal Westberliner Boden betrat, zog es mich wieder zu meinem alten Haus – diesmal aber von der anderen Seite! Nach vier quälend langen Schulstunden war ich am sonnigen Nachmittag in einer riesigen Menschenmenge über die alte, halb zerstörte Oberbaumbrücke gegangen. Über die breite blaue Spree ging ich, meinen Ausweis mit Visumstempel hochhaltend, vom sozialistischen zum kapitalistischen Ufer. Innerhalb weniger Sekunden stand ich innerlich fassungslos neben Westberliner Polizisten auf einer Kreuzberger Straße. Anschließend stand ich stundenlang umsonst nach dem Begrüßungsgeld an, was mir aber ziemlich gleichgültig war, denn während des Stehens begann ich ehrfürchtig den „Westen“ zu betrachten. Die Eindrücke dieses Tages gingen weit über mein Fassungsvermögen. Es war, als ob man einen Eimer Wasser in ein Gläschen gießen wollte. Gleich zu Anfang sprang mir die Buntheit der Straßenszenerie ins Auge. Das ist Pluralismus, sagte ich mir: farbenfrohe Häuserfassaden, Türkenkinder, Anarchisten, West-Autos und West-Kneipen, West-Läden und West-Zeitungen – alles war neu für mich. Jede Querstraße verhieß neue interessante Einblicke, die sich nun mir, der sich sehr nach unendlicher Vielfalt dieser Welt gesehnt hatte, unverhofft erschlossen. Es war bereits dunkel, als ich von Westberliner Seite aus, mein altes Haus erblickte. Fast acht Jahre hatte ich dort gelebt und nie hatte ich die andere Straßenseite betreten können. Ich stand in der neuen Welt und schaute erschüttert auf die alte zurück, repräsentiert durch die kahle, dunkle Front meines Hauses. In diesem Augenblick fühlte ich, wie der Bann der alten Welt, in der ich groß geworden war, seine Macht über meine Person verloren hatte. Und dann tauchte ich ein in das fremdartige Gewimmel der westlichen Großstadt, die sich meinen Augen erschloss, so wie sich ein Eroberer eine neue Welt geistig aneignet.
Auch jetzt noch, wo sich an meinem Haus keine Mauer mehr zeigt,
im Oktober 1990 also, wo meine Augen anscheinend noch nicht begriffen haben,
was mein Verstand längst im historischen Wissen verbucht hat, kommt mir oft das
alte, abrißreife Gebäude in den Sinn. Erbaut wurde es in den 70er oder 80er
Jahren des 19. Jahrhunderts als ein schmuckes Gebäude mit verzierter Fassade.
Seit Kaisers Zeiten stand es am vornehmen Bethaniendamm unweit des Engelbeckens.
Eine alte Anwohnerin erzählte von dem schönen Kanal längs der Straße und von
einem Goldfischteich. Ich stelle mir das Haus als lebendes Wesen vor, welches
seit seiner Entstehung unglaublich viel gesehen haben muß. Ich denke an die
unzähligen Schicksale seiner Bewohner, die sich in den gedachten Augen und
Ohren der alten Wände widerspiegelten. Das Haus erlebte die wirren Monate der
Novemberrevolution, die Jahre der Weimarer Demokratie, die Nazi-Zeit, die
Bombenhagel der Alliierten, die Nachkriegsjahre und den plötzlichen Mauerbau,
gefolgt von den düsteren Jahrzehnten mit dem ständigen Anblick der Todeszone.
Auch an dieser Stelle fielen Schüsse auf Flüchtlinge.
Wenn diese Gemäuer reden könnten! Sie können es zwar nicht, aber ich kann mir vieles denken und mich an vieles erinnern, wie ich da so im Treppenhaus stehe und nachdenklich auf den Hof, das wegen Einsturzgefahr zugemauerte Hinterhaus und die Straße schaue.