Seitenwechsel
Liebe Leser, anlässlich des Jahrestages des Mauerfall erreichen uns des öfteren Briefe von Menschen, die ihre Erlebnisse aus dieser Zeit schildern.
Der Verfasser des vorliegenden Schulaufsatzes zum Thema Mauerfall war damals 17 Jahre alt und besuchte eine Oberschule in Marzahn. Er hatte die ersten sieben Jahre seines Lebens direkt an der Berliner Mauer gewohnt und war 1980 mit seiner Familie nach Marzahn gezogen.

Seitenwechsel 1990
Ich stehe vor dem schmutzigen Treppenhausfenster eines alten Berliner Mietshauses und schaue auf einen ziemlich unspektakuläre, durch das trübe Wetter besonders trist wirkenden Straßenabschnitt. Ich bin nur zu Besuch hier. Dabei habe ich keine Person besucht, sondern allein dieses schäbige, heruntergekommene Haus, das wegen eines Bombentreffers vor fast einem halben Jahrhundert eine fensterlose, wie abgeschnitten wirkende Seitenwand bekommen hat. Dieses Haus steht direkt an der Berliner Mauer. Hier habe ich meine ersten sieben Kindheitsjahre verbracht. Freilich – die Berliner Mauer gibt es jetzt, im Oktober 1990, nicht mehr. An ihrer Stelle befindet sich seit kurzem noch ein wüster Schuttstreifen, wie ich kürzlich erschüttert feststellte. Dennoch: „mein“ Haus und die Mauer werden für mich immer untrennbar bleiben, denn beides ist Teil meiner Kindheit, die mich tief geprägt hat. Natürlich stammt nur ein Bruchteil meiner Erinnerungen aus den Anfangsjahren – über meine späteren Jahre weiß0 ich ungleich mehr zu berichte. Trotzdem zieht diese Gegend mich aus einem schwer begreifbaren Gefühl derart an, daß ich einige Male sogar an dunklen Winterabenden allein von Marzahn aus dorthin aufbrach. Von dieser bomben- und mauerversehrten Altbaugegend geht für mich Heimatgefühl aus wie von nirgendwo sonst.
Als kleiner Junge stand ich am Wohnzimmerfenster und sah fünf Stockwerke unter mir den etwa 25 Meter breiten Todesstreifen, die Vormauer, die sich im Laufe der Jahre vom Eisengitter zum Wellblechzaun und danach zur Betonmauer wandelte und vor der bei nebligem Wetter das Gewehr schulternde Grenzposten standen. Ich sah den Patroullienfahrzeugweg, den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun, in dem sich hin und wieder ein Kaninchen tödlich verfing, was unter Umständen nächtlichen Hubschrauberalarm auslöste, die schweren Beton-Panzerkreuze in mehreren Reihen, die Laternen und Wachtürme, den merkwürdig sauber geharkten Sandstreifen und schließlich die eigentliche Mauer, von der es hieß, sie sei auf der anderen unsichtbaren Seite bunt bemalt. Dahinter sah und hörte ich Kreuzberger Kinder spielen. Jeden Morgen ging ich etwa 500 Meter zu meinem Kindergarten am Michaelkirchplatz, wo ich von katholischen Nonnen beaufsichtigt wurde.
An manchen Nachmittagen saß ich auf dem Schoß eines abenteuerlichen Onkels ein Stockwerk unter mir, der mir Märchen vorlas und vom Wildschweinjagen erzählte. Dieser Mann war im Krieg Panzerfahrer gewesen und zur damaligen Zeit ein von der Stasi überwachter Freund führender DDR-Oppositioneller. Wegen einer Protestaktion gegen den Mauerbau hatte er die Karriere vom Lehrer zum Kohlenschipper zurückgelegt.
Nach meinem Umzug nach Marzahn besuchte ich ihn oft und lieh mir verbotene Bücher von ihm aus. Er starb noch vor dem Mauerfall. Wie sehr hätte ich ihm gewünscht, daß er noch 19 Monate länger gelebt hätte, denn dann hätte er von seinem Wohnzimmerfenster die Mauer kaputtgehen sehen.
Als ich am 11. November 1989 zum ersten Mal Westberliner Boden betrat, zog es mich wieder zu meinem alten Haus – diesmal aber von der anderen Seite! Nach vier quälend langen Schulstunden war ich am sonnigen Nachmittag in einer riesigen Menschenmenge über die alte, halb zerstörte Oberbaumbrücke gegangen. Über die breite blaue Spree ging ich, meinen Ausweis mit Visumstempel hochhaltend, vom sozialistischen zum kapitalistischen Ufer. Innerhalb weniger Sekunden stand ich innerlich fassungslos neben Westberliner Polizisten auf einer Kreuzberger Straße. Anschließend stand ich stundenlang umsonst nach dem Begrüßungsgeld an, was mir aber ziemlich gleichgültig war, denn während des Stehens begann ich ehrfürchtig den „Westen“ zu betrachten. Die Eindrücke dieses Tages gingen weit über mein Fassungsvermögen. Es war, als ob man einen Eimer Wasser in ein Gläschen gießen wollte. Gleich zu Anfang sprang mir die Buntheit der Straßenszenerie ins Auge. Das ist Pluralismus, sagte ich mir: farbenfrohe Häuserfassaden, Türkenkinder, Anarchisten, West-Autos und West-Kneipen, West-Läden und West-Zeitungen – alles war neu für mich. Jede Querstraße verhieß neue interessante Einblicke, die sich nun mir, der sich sehr nach unendlicher Vielfalt dieser Welt gesehnt hatte, unverhofft erschlossen. Es war bereits dunkel, als ich von Westberliner Seite aus, mein altes Haus erblickte. Fast acht Jahre hatte ich dort gelebt und nie hatte ich die andere Straßenseite betreten können. Ich stand in der neuen Welt und schaute erschüttert auf die alte zurück, repräsentiert durch die kahle, dunkle Front meines Hauses.
In diesem Augenblick fühlte ich, wie der Bann der alten Welt, in der ich groß geworden war, seine Macht über meine Person verloren hatte. Und dann tauchte ich ein in das fremdartige Gewimmel der westlichen Großstadt, die sich meinen Augen erschloss, so wie sich ein Eroberer eine neue Welt geistig aneignet.
Auch jetzt noch, wo sich an meinem Haus keine Mauer mehr zeigt, im Oktober 1990 also, wo meine Augen anscheinend noch nicht begriffen haben, was mein Verstand längst im historischen Wissen verbucht hat, kommt mir oft das alte, abrißreife Gebäude in den Sinn. Erbaut wurde es in den 70er oder 80er Jahren des 19. Jahrhunderts als ein schmuckes Gebäude mit verzierter Fassade. Seit Kaisers Zeiten stand es am vornehmen Bethaniendamm unweit des Engelbeckens. Eine alte Anwohnerin erzählte von dem schönen Kanal längs der Straße und von einem Goldfischteich. Ich stelle mir das Haus als lebendes Wesen vor, welches seit seiner Entstehung unglaublich viel gesehen haben muß. Ich denke an die unzähligen Schicksale seiner Bewohner, die sich in den gedachten Augen und Ohren der alten Wände widerspiegelten. Das Haus erlebte die wirren Monate der Novemberrevolution, die Jahre der Weimarer Demokratie, die Nazi-Zeit, die Bombenhagel der Alliierten, die Nachkriegsjahre und den plötzlichen Mauerbau, gefolgt von den düsteren Jahrzehnten mit dem ständigen Anblick der Todeszone. Auch an dieser Stelle fielen Schüsse auf Flüchtlinge.
Wenn diese Gemäuer reden könnten! Sie können es zwar nicht, aber ich kann mir vieles denken und mich an vieles erinnern, wie ich da so im Treppenhaus stehe und nachdenklich auf den Hof, das wegen Einsturzgefahr zugemauerte Hinterhaus und die Straße schaue.