Oma Dora

Liebe Leser, anlässlich des Jahrestages des Mauerfall erreichen uns Briefe von Menschen, die ihre Erlebnisse aus dieser Zeit schildern.
Wenn ich an die Bedeutung der Berliner Mauer für unsere Familie denke, muss ich mich sofort an meinen Vater und seine Mutter erinnern. Unsere Oma Dora hatte ein sehr wechselvolles Leben. Geboren 1891 in eine gutbürgerliche Familie, heiratete sie als junge Frau 1913 ihren Robert. Opa war Kaufmann und besaß gemeinsam mit seinem Bruder in Berlin mehrere gutgehende Hutgeschäfte. Leider habe ich ihn nicht mehr kennen gelernt. Er starb schon 1958. Im Jahr 1920 wurde mein Vater als ältester Sohn geboren. Später unser Onkel Klaus und als jüngster der drei Brüder 1927 Wolfgang. Der Familie ging es materiell gut. Sie wohnte in einer großen Wohnung mit Dienstmädchen, hatte ein Auto, Kleingarten und Segelboot und im Sommer ging es für einige Wochen an die Ostsee. Das in einer Zeit, in der sich nur wenige Familien einen Urlaub leisten konnten. Das änderte sich dann mit der Weltwirtschaftskrise. Für neue Hüte war bei den meisten Menschen kein Geld vorhanden, und die Firma scheiterte. Die Familie zog in eine kleinere Wohnung nach Kreuzberg in die Dresdner Straße, und Oma ernährte eine Zeit lang die Familie mit Näharbeiten. Langsam verbesserte sich die Situation. Dann begann der zweite Weltkrieg, und nach unserem Vater, der vom ersten Tage an dabei war, wurde auch Onkel Klaus eingezogen. Auch der Jüngste, zunächst Flakhelfer in Berlin, sollte in den letzten Monaten noch den Endsieg erkämpfen. Wie viele Stunden und Nächte hat Oma um ihre Söhne gebangt? Zum Glück kamen die drei Brüder einigermaßen heil an Körper und Seele relativ schnell nach Kriegsende zurück. Sie fanden zunächst Obdach bei Onkel und Tante, denn bei einem schweren Fliegerangriff im März 1945 wurde die Familie ausgebombt.
Langsam kam das Leben wieder in Gang, und die drei Brüder suchten sich ihren Platz im Beruf, heirateten und gründeten Familien. Mein Vater lebte im Hause der Eltern meiner Mutter in Mahlsdorf, Klaus ging aus Ostberlin mit seiner Familie erst nach Marienfelde ins Notaufnahmelager und fand dann Arbeit bei Telefunken in Ulm. Wolfgang lebte in Schöneberg und Oma in einer kleinen Wohnung in Kreuzberg. Oma, Onkel und Tante besuchten wir häufig und ich erinnere mich auch an Ausflüge in Westberlin. Am Funkturm war ich einmal sehr traurig, weil mir die Eltern keinen Kaugummi für teures Westgeld kaufen konnten.
Dann kam der 13. August 1961, ein warmer Sonntag, und Vater erklärte uns, dass wir nun Oma, Onkel und Tante nicht mehr besuchen können. Er arbeitete damals in einem Verlag. Als dort für die Grenztruppen Geld gesammelt wurde und er es ablehnte, für die Leute, die die Familie trennten, auch noch zu spenden, war seine berufliche Entwicklung jäh unterbrochen.
Nicht nur die Fahrten nach Westberlin waren nicht mehr möglich, auch die Westberliner durften nach Ostberlin und in die „Zone“ nicht einreisen. Erst zu Weihnachten 1963 gab es das erste Passierscheinabkommen und damit eine Besuchsmöglichkeit. Bürger der Bundesrepublik waren von diesen Beschränkungen nicht betroffen. Also meldete sich Oma schnell in der Wohnung des Onkels in Ulm an und durfte uns mit einem westdeutschen Personalausweis wieder besuchen. Meist kam sie am Sonntag und Vater und ich holten sie vom „Grenzübergang für Bürger der BRD“ in der Heinrich-Heine-Straße ab. Ich habe noch die Stimme meines Vaters im Ohr, der mir sage: „Erzähle bloß nicht, dass Oma eigentlich in Kreuzberg wohnt“.
So vergingen die Jahre und zu Weihnachten 1963 konnten uns auch die anderen Angehörigen aus Westberlin erstmals wieder besuchen. Jahr für Jahr gab es dann das große Hoffen und Bangen: Ob wieder Passierscheine ausgegeben werden? Im Jahr 1967 wurde Oma sehr krank und dennoch kam sie zu uns, solange es noch gesundheitlich möglich war. Die Familie wusste, dass sich Oma nicht mehr erholen wird, aber mein Vater hatte keine Chance, sich am Krankenbett von seiner geliebten Mutter zu verabschieden. Erst viel später wurde mir klar, welche seelischen Qualen er in dieser Zeit erleben musste. Im Januar 1967 verlor unsere Oma den Kampf gegen ihre Krankheit, und auch an der Beerdigung durfte Vater nicht teilnehmen. Erst als Rentner konnte er das Familiengrab auf dem Friedhof am Südstern besuchen und seinen Eltern einen Blumenstrauß bringen.
Heute macht es mich wütend, dass einige Menschen den Mauerfall vor dreißig Jahren zum Anlass nehmen, sich die Wunden zu lecken und zu beklagen, dass durch den Fall der Mauer und das Ende der DDR ihre Biografien einen Knick bekamen, dass der Stasi-Hauptmann nicht mehr zum Major befördert wurde oder die angefangene Doktorarbeit am Institut für Marxismus-Leninismus kein Interesse mehr fand und die Promotion nicht abgeschlossen wurde.